Wandernde Kirchen - Glauben und Aberglauben
-Mönchsgesang-
über Dixit Dominus (Psalm 110). Der Psalm gilt als für theologische Laien unverständlich und rätselhaft. Ebenso sind seine Übersetzungen und Deutungen breit gefächert. Die folgende Sage nennt “sage und schreibe” 29 Orte, deren Kirchen ihren Standort auf geheimnisvolle Art und Weise änderten oder diesen selber aufsuchten.
Wandernde Kirchen
Ursprünglich sollte die Kirche von Seeg auf den höchsten Punkt des Ortes kommen, der südlich vom Standplatz der heutigen Pfarrkirche liegt. Aber als man dort die Grundmauern aufgeführt hatte, trug es sich auf rätselhafte Weise zu, daß diese Mauern am andern Morgen dort standen, wo sich heute der Kirchbau erhebt. Man verstand den Wink und baute die Kirche an diesen Platz.
Auch die Kirche von Stötten hat sich ihren Platz selber ausgesucht. Sie stand nämlich ursprünglich ein gutes Stück weiter oben am Auerberg. Sie ist aber dann Jahr für Jahr ein Stück abwärts gewandert, Elle für Elle, bis sie auf ihrem heutigen Ort stehen blieb.
Genau so war es auf der anderen Seite des Auerberges mit der Kirche von Bernbeuren. Man glaubt, der Grund, daß beide Kirchen nach dem Tale gedrängt haben, seien die unterirdischen Gänge, die den Auerberg kreuz und quer durchziehen und die noch allerhand heidnisches Geistergesindel beherbergen. Dem aber wollten die Kirchen ausweichen.
Das Kirchlein von Maria-Trost bei Bayerstetten stand früher im Ort selbst. Als es aber eine entsetzliche Verunehrung erleiden mußte, wanderte es über Nacht an seinen jetzigen Platz.
Oberhalb Grießau im Lechtal steht am Gehänge des Schrofenwaldes eine Sebastianskapelle. Die hatte man auch näher beim Dorf bauen wollen, aber allemal über Nacht stand das, was man am Tag zuvor gebaut hatte, an der anderen Stelle, und so vollendete man den Bau in Gottes Namen halt hier.
Die Kirche von Lengenwang sollte erst nach Luttenried, die von Gestratz auf den Kirchbühl bei Schweineburg, die Kirche von Rohrdorf aber aufs Feld zwischen Rohrdorf und Aigeltshofen gebaut werden. Auch die Kapelle von Waltrams im Weitnauertal hat man ursprünglich im Tal zu bauen begonnen. Aber über Nacht wanderte jedesmal das Gebaute auf den Platz, wo man dann schließlich das Gotteshaus vollendete. So war's auch bei der Kirche von Kimratshofen, die man zuerst im Dorf haben wollte. Weil aber stets über Nacht die Tagesarbeit auf den Berg gewandert ist, hat man nachgegeben und die Kirche auf den Hügel gebaut, auf dem sie noch heute steht.
Bei der Kirche von Stephansrettenberg kennt man den Grund, warum sie sich nicht auf dem Kirchbühel bauen lassen wollte, sondern nächtlicherweile wanderte. Weil man der Sache auf den Grund kommen wollte, grub man im Boden nach und fand an dem Platz, wohin der Altar gekommen wäre, die Überreste vieler heidnischer Soldaten. Es war also dieses Heidengrab, dem die Kirche ausgewichen ist.
Von dem Kirchlein des Weilers Sellthüren bei Obergünzburg berichtet eine alte Sage, daß die Kapelle eigentlich ins Hinder-Weiler hätte gebaut werden sollen. Aber da hat man auf dem Platz, wo sie jetzt steht, nachts ein Hämmern gehört und das als Zeichen dafür genommen, lieber diesen Bauplatz zu wählen.
Die Kirche in Mittelberg im Walsertal wollte man eigentlich in die Parzelle "Ahorn" bauen. Am heutigen Kirchplatz stand eine Kapelle, die man abreißen mußte. Was man aber tagsüber an dem neuen Platz baute, das stand am nächsten Morgen auf dem alten Platz. So gab man es schließlich auf und errichtete die neue Kirche an der Stelle der alten, abgebrochenen Kapelle.
Auch anderwärts im Allgäu haben sich Kirchen den Plänen ihrer Erbauer widersetzt und haben sich, übrigens stets auf die gleiche Weise, einen anderen Bauplatz erzwungen. Außer in den bereits genannten Orten soll sich solches auch zugetragen haben in Geisenried, Frankenried, Rottach, Sulzberg, Ried bei 0ttacker, Fischen, Maiselstein, Altstädten, Knottenried, Immenstadt, Gunzesried, Großdorf, Remnatsried, Rieder bei Marktoberdorf und bei der St. Georgskirche auf dem Auerberg.
Allgäuer Sagen, hrsg. Hermann Endrös und Alfred Weitnauer - mit freundlicher Genehmigung des Franz-Brack-Verlag, Altusried
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